Wenn das Wasser schreiben könnte
Jette Helds poetische Arbeiten muten wie zarte Aquarelle an. Die feinsinnigen Werke zeigen sanfte Farbverläufe changierend zwischen bläulich-violetten Farbtupfern auf hellem Grund. Teils durchzogen von dunklen linearen und granularen Formen. Andere Arbeiten sind in Schwarz-Weiß gehalten und weisen netzartige Strukturen auf, die mal mehr, mal weniger klar umrissen sind. Stellenweise sind Schatten feingliedriger Gräser, fragiler Blätter und Äste zu erkennen. Die lyrische Bildsprache und ruhige Stimmung, die von den Bildern ausgeht, inspiriert dazu in die schlafwandlerischen Traumwelten aus fließenden Übergängen von Licht und Schatten, Form- findung und Strukturauflösung, Ruhe und Bewegung einzutauchen. Handelt es sich um Fotografien unendlicher Weiten des Himmels, Unterwasseraufnahmen von verschiedenen Gewässern oder um Mikroskopien kleinster Materie? Gleitet der Blick weiter, sinken die ersten zaghaften Assoziationen zurück ins Unterbewusstsein und neue Gedanken tauchen an der Oberfläche des Bewusstseins auf.
Die Fotografien entstanden während täglicher Streifzüge der Künstlerin durch die Landschaft ihrer unmittelbaren Umgebung in ihrer Heimat Tanne im Harz und ihres temporären Wohnorts Wien. Die meisten von ihnen sind Unikate, entstanden in direkter Interaktion mit der Natur. Auf ihren Spaziergängen entlang der Flüsse Bode und Donau nahm Jette Held Veränderungen der Natur wahr, die nicht allein auf den Verlauf der Jahreszeiten zurückzuführen sind. Sie begann, die Betrachtung ihrer gewohnten Umgebung zu intensivieren. Als Instrument diente ihr hierbei ihr Körper mit all seinen Sinnen. Dem Konzept der Fotografie als Repräsentation stellt Jette Held einen phänomenologischen Ansatz entgegen. Statt die Landschaft durch das Auge der Fotokamera zu betrachten, konzentriert sie sich ganz auf die körperliche Wahrnehmung. Statt mithilfe des Suchers einer Kamera Abbilder des Gesehenen zu erstellen und voreilige Schlüsse zu ziehen, erlebt Jette Held das komplexe Zusammenspiel von Natur und der in ihr wirkenden Organismen durch das tägliche Wahrnehmen und Durchschreiten der Umgebung – ganz ohne technische Hilfsmittel. Schritt für Schritt, Tag um Tag, lernt sie die Landschaft so besser kennen. Die der Natur eigene Zeitlichkeit und die Ästhetik der täglich voranschreitenden Transformation des natürlichen Raums zeigt sie in ihren Arbeiten.
Statt wissenschaftliche Dokumente eines punktuellen Status quo des landschaftlichen Wandels wie Trophäen der Jagd nachhause zu tragen, um sie im Labor zu sezieren, zu analysieren und schließlich als Ergebnisse einer vermeintlich objektiv-motivierten Feldforschung zu exponieren, wählt Held einen anderen Weg. Jette Helds künstlerischer Ansatz ist ein sinnlich-ästhetischer.
Sie interessiert, wie etwas aussieht. Und zwar jenseits physikalisch wissenschaftlicher Schemata. Durch das Erstellen von Fotogrammen und der Verwendung handgefertigter Lochkameras schließt sie Kontrolle und klare Strukturen, die diesen Techniken fremd sind, aus dem Arbeitsprozess aus. Stattdessen integriert sie durch das offen gestaltete Vorgehen bewusst Zufall und Herausforderungen. Das Zusammenspiel von Licht, Material und Umwelt steht dabei im Fokus. „Fotografie ist für mich das Werkzeug zur Erforschung meiner nahen Umgebung und Heimat – es sind die Spuren der Kontexte Natur und Umwelt, die mich interessieren.“
Jette Held arbeitet seriell und verwendet stets neue Formen, Formate und Techniken, um ihrem Untersuchungsgegenstand gerecht zu werden. Hier dient ihr das sogenannte Fotogramm-Verfahren als Mittel der Wahl, um einen fluiden Zugang zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu gewähren. Denn es geht Jette Held nicht darum ihre, beziehungsweise eine einzige statische Perspektive, sondern die sich stetig im Wandel befindliche Perspektive der Natur kontinuierlich zu visualisieren. Ohne Verwendung einer Kamera entstanden die Arbeiten direkt vor Ort. Hierfür legte Jette Held zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten lichtempfindliches Fotopapier an verschiedenen Stellen der Flüsse Bode und Donau ins Wasser und überließ das Material über längere Zeiträume der Strömung. Im Dialog mit dem Material hinterließ das Wasser Spuren auf den empfindlichen Oberflächen. Es entstanden Kratzer, Abschabungen und Knicke, die durch den direkten Kontakt mit Sand, Steinen und durch die Kraft der Strömung hervorgerufen wurden.
Diese vermeintlichen ‚Makel‘ und ‚Fehler‘ sind von der Künstlerin als Ausdruck der Sprache der Natur akzeptiert und gewünscht und stellen einen bedeutenden Teil der Arbeiten dar.
"Wenn das Wasser schreiben könnte" lautet folgerichtig der Titel der Serie. Die im Konjunktiv formulierte Überlegung spielt auf die Anerkennung von Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit natürlicher Phänomene an. Dies steht im Gegensatz zur herkömmlichen Betrachtungsweise, dass die Natur, hier das Wasser, eine Ressource darstellt, die es je nach Ausrichtung zu schützen oder zu dominieren, zumindest jedoch zu organisieren gilt. Durch die Visualisierung der selbstbestimmten Interaktion von Licht, Material und Wasser wird diese Überlegung zur Realität. Die Fotogramme sind nicht mehr reine Abbilder, sondern werden zu Objekten, zu Schriftstücken transformiert. Sie sind indexikalische Zeichen, die die Natur für sich selbst sprechen lassen und zugleich stellen sie Dokumente der Transformation dar. Die Natur wird als selbstwirksam Handelnde anerkannt und ihre Sprache, ihre Perspektive, wird durch Jette Helds Arbeiten über ihre Grenzen hinaus erfahrbar. Jette Helds Arbeiten plädieren für ein genaues Hinschauen und ein Wahrnehmen der Chancen des Wandels: Die Natur, unsere unmittelbare Umgebung, hat uns etwas zu erzählen. Lasst uns hinter der Kamera hervor und in den Dialog treten, um voneinander zu lernen.
Autorin: Babette Werner, Kunsthistorikerin, Berlin
Aus: Ausstellungskatalog zur Ausstellung "gute aussichten - junge deutsche fotografie 2022/23" , 2023

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